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„Was geschah mit meinem Onkel?“ fragte Nikolaj Mischtschenko vor über 15 Jahren.

Der verschollene Rotarmist

Im Frühjahr 2021 bereite ich einen Vortrag für eine Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion vor. Dabei forsche ich auch zu Verbrechen an Angehörigen der Roten Armee in Konzentrationslagern. Etwa tausend von ihnen wurden während des Zweiten Weltkriegs in Flossenbürg ermordet.

Bei der Recherche stoße ich auf die Anfrage von Nikolaj Mischtschenko zu seinem Onkel aus dem Jahr 2005. Damals konnte sie nicht abschließend beantwortet werden.

Ich frage mich, ob sich heute mit den Möglichkeiten unseres digitalen Archivs Gewissheit erlangen lässt. Gehörte Grygorij Grygorowytsch Mischtschenko zu den Ermordeten?

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Jahrzehntelanges Warten

Anfang Juli 1941 gerät Grygorij Mischtschenko im Nordwesten der Ukraine bei Luzk in Kriegsgefangenschaft.

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Er gilt seitdem als verschollen und sein Bruder Stefan leidet unter der Ungewissheit.

2005 reiste Stefans Sohn Nikolaj Mischtschenko nach Deutschland, um das Schicksal seines Onkels aufzuklären. Ich versuche den Weg und die Recherche von Nikolaj nachzuvollziehen. Gleichzeitig schaue ich, ob die Fortschritte im vernetzten digitalen Forschen in den letzten fünfzehn Jahren uns der Lösung des Falls ein wenig nähergebracht haben.

Digitales Spurensammeln

In einem eigenen Bereich der Memorial Archives sammeln wir Dokumente zu sowjetischen Kriegsgefangenen. Dazu werden in Archiven der postsowjetischen Länder Dokumente digitalisiert. Wir arbeiten dabei eng mit anderen Einrichtungen zusammen: dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, dem Deutschen Historischen Institut Moskau sowie dem Bundesarchiv.

In den Memorial Archives bereiten wir die Informationen auf und machen die Quellen zugänglich. Wir leisten damit wichtige Arbeit: So können Kriegsschicksale möglicherweise aufgeklärt werden.

Was wissen wir heute über Grygorij?

Im ersten Schritt suche ich den Namen „Grygorij Mischtschenko“ in unserer Datenbank. Bei Personen mit kyrillisch geschriebenen Namen sind verschiedene mögliche deutsche Umschriften zu berücksichtigen. Häufig sind slawische und zentralasiatische Namen in NS-Dokumenten auch fehlerhaft angegeben.

Ich finde tatsächlich einen Datensatz zu einem „Grygorij Mischtschenko“. Dokumente zu ihm sind in der Datenbank nicht gespeichert. Leider. Dem Datensatz zufolge war er allerdings einer der in Flossenbürg exekutierten sowjetischen Soldaten.

Noch ist nicht ersichtlich, woher diese Information stammt.

Geheimgehaltene Dokumente

Im lokalen Archiv in Stawropol war Nikolaj 1998 bereits auf eine Spur seines Onkels gestoßen - eine Personalkarte. Er erhielt davon eine Kopie und zugehörige Unterlagen.

Sowjetische Kriegsgefangene

Insgesamt geraten während des Zweiten Weltkriegs auf allen Kriegsschauplätzen 35 Millionen Soldaten in Gefangenschaft. Die größte Gruppe im Gewahrsam der Wehrmacht sind nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 Angehörige der Roten Armee.

Gemäß der NS-Rassenideologie werden diese 5,7 Millionen Kriegsgefangenen als minderwertig angesehen. Sie werden gezielt unterversorgt und schlecht untergebracht; bis Ende 1941 ist ein Großteil von ihnen bereits nicht mehr am Leben. Die geschätzte Zahl der Toten variiert, sicherlich sterben aber mehr als 3,3 Millionen Angehörige der Roten Armee in deutscher Gefangenschaft.

Kriegsgefangene Unteroffiziere und Mannschaften sind in so genannten Stalags – größeren Kriegsgefangenenlagern – untergebracht. Zunächst ist aus ideologischen Gründen nicht vorgesehen, sie zum Arbeitseinsatz heranzuziehen. Bereits im Winter 1941/42 ändert sich dies jedoch aufgrund der Kriegslage. Rotarmisten werden sogar völkerrechtswidrig zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie herangezogen. Ihre Versorgungslage bessert sich dadurch etwas.

Gleichwohl durchsuchen Gestapo und Wehrmacht die Stalags und Arbeitskommandos im Reichsgebiet sowie im Protektorat Böhmen und Mähren regelmäßig nach „gefährlichen Elementen“ und „Trägern des Bolschewismus“, unter denen die Nationalsozialisten Kommunisten, Intellektuelle, Offiziere jüdischer Abstammung sowie auch Politkommissare verstehen. Solche wiederholten Aussonderungen sind ideologisch begründet und werden auf Grundlage der Einsatzbefehle Nr. 8 und 9 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich vom Juli 1941 durchgeführt, die am 27. August 1941 erweitert und endgültig festgelegt werden. Über 30.000 sowjetische Kriegsgefangene werden der Gestapo übergeben: Durch diese offizielle „Entlassung“ aus der Kriegsgefangenschaft – und somit aus der Zuständigkeit der Wehrmacht – wird auch die Genfer Konvention von 1929 übergangen, die den Schutz von Kriegsgefangenen regelt. Die als ideologische Feinde angesehenen Rotarmisten werden in die nächstgelegenen Konzentrationslager transportiert und dort von der SS exekutiert.

Für uns Forschende heute sind die Karteikarten sehr wichtige Quellen, wenn es um sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft geht.

Die Karteikarte verrät, wohin die Deutschen den Onkel brachten, angefangen mit seiner Registrierung am 4. Juli 1941 bis zu seiner Überstellung zu einem Arbeitskommando am 19. Oktober 1941.

Eine Spur nach Regensburg

Zum „A.K. 306 Regensburg“ gehörten 700 Männer. Sie mussten unter miserablen Bedingungen in einem Nachschubdepot der Wehrmacht arbeiten.

Rückseite der Personalkarte I von Grygorij Mischtschenko mit Angabe der Arbeitskommandos, denen er zugeteilt war. Kopie aus dem FSB-Archiv Stawropolskij Kraj, 1998 (Privatbesitz)

Im Zweiten Weltkrieg legte die Wehrmacht für gefangengenommene Soldaten solche Karteikarten an. Nach Kriegsende beschlagnahmte die sowjetische Besatzungsverwaltung diese und andere deutsche Dokumente. Anschließend gelangten sie in sowjetische Archive.

Solange die UdSSR existierte, blieben die Informationen unter Verschluss. Familienangehörige erfuhren nichts über das Schicksal verschollener Soldaten. Für die Angehörigen von Grygorij Mischtschenko dauerte diese Ungewissheit über 50 Jahre.

Eine Sackgasse?

Durch die Ortsangabe auf der Karteikarte ermutigt, schrieb Nikolajs Vater 2005 an die Stadt Regensburg.

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Die Stadtverwaltung besaß jedoch keine Überlieferung zu dem Kriegsgefangenenlager. In der NS-Zeit waren andere Stellen zuständig: Wehrmacht und Kriminalpolizei (Gestapo).

Trotzdem erhielt Nikolaj wichtige Hinweise und Kontakte. Die lokale Gruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) betreute seinen Besuch im Oktober 2005 und machte ihn auf die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg aufmerksam.

Besuch aus dem Nordkaukasus

Bereits damals werteten die Kolleg*innen zusammen mit Nikolaj die mitgebrachten Dokumente aus. Für sich allein waren sie wenig aussagekräftig. Erst in Kombination mit einem anderen Schriftstück in unserem Archiv, der sogenannten Kuhn-Liste, ermöglichten sie Rückschlüsse auf Grygorijs Schicksal.

Die Kuhn-Liste war in den Nürnberger Prozessen ein Beweisstück der Anklage. Sie ist zentral für das Verständnis der Zusammenarbeit von Wehrmacht, Gestapo und SS bei Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen.

Ein neuer Abgleich

Ich nehme mir die von Nikolaj mitgebrachten sowie die im Archiv vorhandenen Dokumente nochmals vor und überprüfe die Erkenntnisse der ursprünglichen Recherche.

Von der Personalkarte war 2005 eine Kopie für unser Archiv gefertigt worden. Seitdem könnten weitere Quellen erschlossen worden sein, die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zugänglich waren. Ich durchsuche daher unseren Datenbankbestand zu sowjetischen Kriegsgefangenen, der ständig erweitert wird.

Tatsächlich sind inzwischen Dokumente aus dem Archiv Stawropol in die Memorial Archives eingepflegt worden – nicht aber die Dokumente zu Grygorij. Das heißt: Ohne Nikolajs alte Papierkopie wäre ich auch mit unserer modernen Datenbank nicht weitergekommen!

Von der Gestapo „ausgesondert“

Auf der Rückseite der Personalkarte findet sich ein Stempel: „10.12.41 Gestapo Regensburg“. Das verheißt nichts Gutes.

Vorderseite der Personalkarte I von Grygorij Mischtschenko. Kopie aus dem FSB-Archiv Stawropolskij Kraj, 1998 (Privatbesitz)

Ich mache – wie die Kolleg*innen Jahre zuvor – einen Abgleich mit der Kuhn-Liste.

Im Herbst 1941 wurden Arbeitskommandos für sowjetische Kriegsgefangene systematisch überprüft. Selektiert wurden Männer, die als „politische Kommissare“ oder Aufwiegler galten.

Für den Zuständigkeitsbereich der Stapo Regensburg war Luitpold Kuhn verantwortlich. Als Kriminalbeamter gehörte er auch der SS an. Die Liste dokumentierte die „unbrauchbaren Elemente“, die er „aussonderte“. Das bedeutet in der verschleiernden Sprache der NS-Zeit, die Männer wurden in Konzentrationslager überstellt und ermordet.

In Flossenbürg wurden sie in der Regel noch am Tag ihrer Ankunft erschossen.

Namenlose Opfer

„10.12.41 Gestapo Regensburg“, so der Stempel auf Grygorijs Personalkarte… Laut der Kuhn-Liste wurden einen Tag später, am 11. Dezember 1941, vierzehn Häftlinge von Regensburg nach Flossenbürg gebracht und dort exekutiert. War Grygorij unter ihnen?

Selektions- und Exekutionsliste sowjetischer Kriegsgefangener des Kriminalkommissars Luitpold Kuhn, 17.01.1942 (Staatsarchiv Nürnberg)

Die Namen der Opfer werden auf der Kuhn-Liste nicht genannt. Die Deutschen wollten die Mordaktionen möglichst geheim halten. Das gelang nicht in jedem Fall: Die 52 Häftlinge, die zweieinhalb Monate zuvor aus Regensburg zur Exekution nach Flossenbürg kamen, sind uns ausnahmsweise durch ein weiteres Dokument bekannt. Es handelte sich um Häftlinge aus Grygorijs Arbeitskommando.

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist deshalb auch Grygorij in Flossenbürg erschossen worden.

Querverweise

Spuren der NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen finden sich häufig in unterschiedlichen Beständen. Oft sind es Unterlagen der Gestapo oder der Wehrmacht, die weiterhelfen. Erst die Auswertung der verstreut überlieferten, jedoch zusammengehörigen Quellen führt zum Ziel.

Durch die Digitalisierung des Archivguts und Online-Datenbanken ist es inzwischen einfacher, in verschiedenen Beständen zu recherchieren. Es ist daher gut möglich, dass wir heute auch Schicksale aufklären können, zu denen früher Dokumente fehlten oder bei denen Archive nicht zugänglich waren.

Wirklich Neues über Grygorij Mischtschenkos Schicksal konnte ich nicht herausfinden, aber die alten Schlussfolgerungen bestätigen. Auch das Überprüfen der Dokumente hält die Erinnerung an ihn wach.

Eine Research Story von Daria Kozlova, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2022.