Die Kommandanturen der einzelnen Lager sind der „Inspektion der Konzentrationslager“ in Oranienburg unterstellt. 1942 wird die Behörde als Amtsgruppe D dem Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS angegliedert. Die Zentralstruktur führt dazu, dass bei der Gründung neuer Hauptlager wie Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg oder Auschwitz eine große Zahl an Häftlingen zusammengezogen wird, um Zwangsarbeit beim Lagerbau zu leisten. Die innere Logik des Konzentrationslagersystems führt zum Transport tausender Häftlinge mit der Reichsbahn, zunächst zum Auf- und Ausbau weiterer Haftorte, mit der Etablierung für die Rüstung relevanter Außenlager ab 1942/43 dann vor allem zur Bereitstellung von Häftlingen für die Zwangsarbeit.
Die Anstrengungen der Deutschen, die Rüstungsproduktion aufrechtzuerhalten, erhöht die Zahl und Frequenz der Transporte zu Außenlagerstandorten, deren Zahl stetig steigt. Die Amtsgruppe D versucht dabei gezielt Qualifikationen und Berufserfahrungen der Häftlinge zu nutzen und diese für spezialisierte Aufgaben an bestimmten Standorten einzusetzen. Zudem machen es die hohen Todeszahlen durch die unmenschliche Arbeitsbelastung nötig, ständig weitere Häftlinge zu den Produktionsstätten zu transportieren.
Von den Häftlingstransporten zwischen Konzentrationslagern oder zu Außenlagern sind die Deportationen der jüdischen Bevölkerung Deutschlands und der besetzten Länder in Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa zu unterscheiden.
Eigentlich wollte ich hier die Geschichte des ersten Häftlingstransports von Auschwitz nach Flossenbürg erzählen. Doch bei meiner Recherche entdecke ich neue Dokumente …
Geschichte(n) schreiben
An Gedenkstätten fallen vielfältige Recherchen an. Wir helfen etwa bei der Suche nach vermissten Familienangehörigen oder unterstützen Wissenschaftler*innen bei ihrer Forschung.
Recherchiert wird aber auch für eigene Projekte - wie etwa diese Website.
Die Idee zu Research Stories entstand in einem Kooperationsprojekt der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Die Website soll eine Plattform sein, um Recherchegeschichten aus unserer täglichen Arbeit erzählen.
Ein früheres Ergebnis der Zusammenarbeit der beiden Gedenkstätten ist der Sammelband „Transporte polnischer Häftlinge in den KZ-Systemen Auschwitz, Dachau und Flossenbürg.“
Das Buch enthält einen Aufsatz über den ersten Häftlingstransport von Auschwitz nach Flossenbürg im November 1940. Grund für die Überstellung der elf Männer soll die Flucht eines Mithäftlings gewesen sein.
Das klingt vielversprechend. Ich bitte deshalb unsere Projektkolleg*innen im Museum Auschwitz um Scans der Dokumente zu dem Transport und den betroffenen Häftlingen.
Informationen aus Auschwitz
Während der Errichtung des KZ Auschwitz kommt es regelmäßig zu Kontakten zwischen Häftlingen und lokalen Arbeitern. Vermutlich mit ihrer Hilfe gelingt dem Häftling Thadeusz Wiejowski am 6. Juli 1940 die Flucht aus dem Lager.
Fünf Arbeiter werden verhaftet und selbst im KZ Auschwitz inhaftiert. Zudem werden elf Häftlinge beschuldigt, von der Flucht gewusst und sie nicht gemeldet zu haben.
Beinahe drei Monate warten die Beschuldigten auf ihre Strafe. Im Oktober werden sie auf den Appellplatz geführt. Dort verliest der damalige Schutzhaftlagerführer Karl Fritzsch das Todesurteil.
Anschließend erklärt Fritzsch jedoch, die Todesstrafe werde in eine Prügelstrafe mit darauffolgender Überstellung in das KZ Flossenbürg umgewandelt. Die Arbeit im dortigen Steinbruch käme, so Fritzsch, der Todesstrafe gleich.
In den Dokumenten, die mir die Kolleg*innen im Museum Auschwitz zugeschickt haben, finde ich die Häftlinge, die nach Flossenbürg strafversetzt wurden.
Da ich nun ihre Namen kenne, kann ich unsere Datenbank Memorial Archives nach ihnen durchsuchen.
Dokumente in Flossenbürg
Bei einem der Namen, Gerhard Eugeniusz Hejka, merke ich auf. Erst vor kurzem habe ich in unserem Archiv eine Paketkarte mit diesem Namen neu verpackt.
Nun schaue ich mir auch die anderen Unterlagen an, die wir zu Gerhard Hejka vorliegen haben. Insbesondere seine Effektenkarte erscheint interessant.
Auf der Karte lassen sich zwei „Zeitschichten“ erkennen. Ausgefüllt wurde sie zuerst bei Hejkas Ankunft in Flossenbürg im Dezember 1940.
Auf ihr finden sich aber auch handschriftliche Kommentare in englischer Sprache, einer davon eindeutig auf den 11. Juni 1945 datiert – zwei Monate nach der Befreiung des Lagers.
„In camp at Schwandorf“ heißt es auf der Karte. Damit muss das dortige Lager für Displaced Persons gemeint gewesen sein. Weitere Dokumente, die diese Vermutung belegen, finde ich leider nicht.
Ich möchte mehr über das DP-Lager erfahren. Dabei hilft mir die Forschung einer früheren Kollegin zu Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zwar finde ich in ihren Aufsätzen nichts zu Schwandorf, aber Gerhard Hejka soll „camp leader“ in einem DP-Lager für Polen in Weiden in der Oberpfalz gewesen sein.
Auch die Baracken des ehemaligen Konzentrationslagers Flossenbürg in der Nähe von Weiden wurden pragmatisch als Lager für Displaced Persons weitergenutzt. Hier wurden ab Ende April 1946 vor allem Polen untergebracht, die im Krieg als Zwangsarbeiter nach Österreich verschleppt worden waren.
Hejka war wohl Mitglied eines von den polnischen DPs in Flossenbürg gegründeten Komitees, das sich ab Juni 1946 für die Errichtung eines Denkmals auf dem Flossenbürger Ehrenfriedhof und den Bau einer Kapelle auf dem ehemaligen KZ-Gelände einsetzte.
Bau erster Denkmäler
Ein Blick in unser Sammlungsverzeichnis zeigt, dass wir in unserem Archiv Unterlagen zum Bau des Denkmals und der Kapelle haben. Darunter sogar das Protokollbuch des Komitees!
Ich besorge mir das Buch aus dem Magazin und blättere vorsichtig durch die Seiten auf der Suche nach Gerhard Hejka.
Schnell finde ich Hejkas Namen. Beim zweiten Treffen des Komitees am 23. Juli 1946 wird er zum Stellvertreter des Vorsitzenden gewählt. Er spricht fließend Deutsch und Polnisch und vertritt bei den Treffen vor allem die Interessen der polnischen Opfer.
Im Mai 1945 wurde von der amerikanischen Militärregierung im Ortskern von Flossenbürg ein einfacher Friedhof für die nach der Befreiung gestorbenenen KZ-Häftlinge angelegt. Dieser droht jedoch zu verwahrlosen, weshalb das Denkmalkomitee auf eine Umgestaltung drängt.
Am 27. Oktober 1946 - nur vier Monate nach Gründung des Komitees - wird der neu gestaltete Ehrenfriedhof eingeweiht. Er ist weithin sichtbar durch ein über fünf Meter hohes Granitmonument.
Nach der Umgestaltung des Ehrenfriedhofs in der Ortsmitte widmet sich das Komitee der Realisierung der Kapelle auf dem ehemaligen Lagergelände.
Bereits am 1. September 1946 wird der Grundstein gelegt. Die Kapelle wird aus den Steinen dreier abgerissener Wachtürme des Konzentrationslagers errichtet.
Die angeschlossene Gedenkanlage verwendet christliche Symbolik und ist als Kreuz- und Erlösungsweg gestaltet. Durch die versetzten Pfosten des Lagertors steigen Besuchende hinunter in eine Talsenke. Vom Lagerkrematorium werden sie an einer Aschenpyramide vorbei zu Gedenkplatten mit den Opferzahlen einzelner Nationen geführt. Anschließend steigt der Weg auf zu der Kapelle „Jesus im Kerker“, die heilsversprechend das Tal überschaut.
Für die Denkmalanlage wird schnell die Bezeichnung „Tal des Todes“ gängig.
Als die Gedenkkapelle am 25. Mai 1947, dem Pfingstsonntag, feierlich eingeweiht wird, ist Gerhard Hejka bereits nicht mehr Mitglied des Denkmalkomitees.
Im Sommer 1948 wandert er mit seiner Frau Kazimiera nach Australien aus. Er stirbt dort am 27. Juli 2009.
Zurück in die Gegenwart
Ich lehne mich im Bürostuhl zurück und schließe die Augen.
Das Material in den Archiven bietet viele Möglichkeiten. Welche Geschichte wollen wir auf Research Stories erzählen?
Die Flucht des Häftlings Thadeusz Wiejowski aus dem KZ Auschwitz und die Folgen für die Mithäftlinge - also die Geschichte des ersten Häftlingstransports von Auschwitz nach Flossenbürg?
Oder vielleicht doch eine Geschichte über die Situation der Häftlinge nach Kriegsende und ihr Engagement für die Errichtung von Gedenkstätten - die Geschichte von Gerhard Hejka?
Für unsere Forschung haben wir nur die Quellen, die überdauert haben. Unsere Aufgabe ist es, möglichst viele Aspekte zu beleuchten, um der Vielfalt von Schicksalen und der Diversität der NS-Opfer gerecht zu werden. Die Digitalisierung des Archivguts hilft uns dabei.Eine Research Story von Louis Volkmer, KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, 2023